( Vogeljette, Taufname: Lydia Adelheid Hellenbrecht geb. Köbner )
Im langen schwarzen Kleid, mit einem großen weißen gehäkelten
Umschlagtuch darüber, das Gesicht durch einen hauteng getragenen weißen
Schleier fast verdeckt, ein Häubchen auf dem Kopf, an einem Arm ein
kleines viereckiges Spankörbchen darin Brotwürfel, am anderen Arm einen
kleinen weiß emaillierten Eimer mit Wasser - so zog sie durch die
Straßen des Stadtteils St. Georg in Hamburg und füttert e auf den freien Plätzen die
Vögel, besonders gern Spatzen.
"Vogeljette" wurde sie genannt. Hans Ross, der sie als Kind gekannt hatte, schreibt dazu: "Daß wir
Jungens von damals, wenn die Vogeljette ihrem Körbchen die sorgfältig
geschnittenen Brotwürfel entnommen hatte, sie dann mit einigen Spritzern
aus dem kleinen Eimer angefeuchtet hatte, alles jedenfalls meistens,
in Ruhe betrachteten, lag wohl an dem stillen Respekt, den die alte
Frau genoß. Wenn es mal nicht so artig verlief und die Jungens die
Spatzen verjagten, ging ein großes Donnerwetter über die Jugend los."
Für viele Bürgerinnen und Bürger war die
Vogeljette unverständlich - und so musste für das von der Norm
abweichende Verhalten eine Erklärung gefunden werden. Wie das in vielen
Fällen üblich ist, war man schnell mit der Bezeichnung "verrückt" bei
der Hand. Die Erklärung für ihr "Verrücktsein" wurde gleich
mitgeliefert. Einige erzählten, dass die Vogeljette glaube, ihr
verstorbener Mann sei als Spatz wiedergeboren worden. Andere
verbreiteten die Mär, dass die Vogeljette davon überzeugt sei, dass ein
Zauberer ihren Mann in einen Spatz verwandelt habe. Mit diesen
"selbstgestrickten" Erklärungsversuchen legte sich die Verunsicherung,
die Lydia Adelheid Hellenbrechts Verhalten unter der Bevölkerung
ausgelöst hatte, und die Bevölkerung hatte eine Handhabe die Vogeljette
als sonderliche Alte abzustempeln.
Lydia Adelheid
Hellenbrecht war die Tochter eines Steuermannes, den sie bereits als
Kind durch den Seemannstod verloren hatte. Im Alter von 30 Jahren
heiratete sie den 20 Jahre älteren Schreiber und Boten Johann Heinrich
Carl Gottlieb Hellenbrecht. 1883, nach nur neun Ehejahren, starb ihr
Mann an der Cholera und fortan ging Lydia Hellenbrecht bis zu ihrem Tod
in Trauerkleidung.
58 Jahre nach ihrem Tod versuchte
Hans Ross sie von ihrem Image der sonderlichen Alten zu befreien: "Aus
genauer persönlicher Kenntnis begründet mit manchem Gespräch mit Frau
Hellenbrecht, muß ihr hier nachträglich aber eine kleine Ehrenrettung
gegeben werden. Sie war bei ihrer sehr schlanken Figur nicht nur
körperlich völlig gesund, sie war auch geistig restlos klar. Die
Marotte des Vogelfütterns war ausschließlich ein Ausdruck ihrer
Tierliebe, besonders zu den Gefiederten. Da auch ihr verstorbener Mann
die gleiche tierfreundliche Einstellung hatte, glaubte sie bei ihrer
Futterverteilung dem Andenken des Verstorbenen bestens zu entsprechen.
Sie kannte die Nachrede und Erzählungen der Leute genau, hat sich aber,
auch gestützt auf eine schlichte Frömmigkeit, nicht beirren lassen und
bei sparsamster Lebenshaltung, da sie nur sehr geringe Einkünfte
hatte, ihre vielbespöttelte Tätigkeit zum Segen der gefiederten Natur
durch Jahrzehnte ausgeübt.
Frau Hellenbrecht wohnte mit uns im Hause Rostocker Straße
9. Sie war Untermieterin im 2. Stock bei Abeling. Ihre kleinen
Einkünfte zwangen sie zur größten Sparsamkeit. So lange das Tageslicht
es erlaubte, saß sie nachmittags und abends auf der Bodenetage unter dem
großen einfallenden Licht und las in der Bibel.
Text: Dr. Rita Bake